Stehen wir vor dem Ende der Wissensgesellschaft?
Ein Blick zurück
Wer sich wie ich mit der Zukunft beschäftigt, sollte auch ab und zu einen Blick zurück in die (eigene) Vergangenheit werfen. Das hilft nicht nur, die sachlichen Zusammenhänge bei längeren Entwicklungslinien zu erkennen. Es wird auch deutlich, wie stark unsere Wahrnehmung zukünftiger Optionen durch Glauben und Hoffnungen oder auch Skepsis geprägt ist. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Arbeitswelt sind mir zwei Beispiele besonders im Gedächtnis geblieben.
Etwa im Jahr 2005 zog ich gemeinsam mit Vertretern der Handwerkskammer Halle durch die Landkreise des Kammerbezirkes, um die Handwerker*innen auf den bevorstehenden radikalen Einbruch bei den Bewerbern für Ausbildungsplätze vorzubereiten. Die Rechnung war einfach und kaum zu bezweifeln. Im Ergebnis der Wende hatten sich die Geburtenzahlen innerhalb eines Jahres etwa halbiert. 16 Jahre später würde sich auch die Zahl der Schulabgänger halbieren, was nach einer Übergangsphase auch die Anzahl der Bewerber drastisch reduziert. Die Handwerksmeister*innen betrachteten uns mit freundlicher Nachsicht als versponnene Wissenschaftler. Schließlich kamen auf jede offene Lehrstelle eine Vielzahl von Bewerber*innen. Wenige Jahre später änderte sich tatsächlich erst im Osten und dann im Westen die Bewerbersituation grundsätzlich und schlug durch bis auf den heute allgegenwärtigen Fachkräftemangel.
Noch mehr Ähnlichkeit mit dem Thema dieses Artikels haben meine Erfahrungen aus dem Jahren 2014/2015. Damals veröffentlichten Wissenschaftler der Oxford Universität eine Prognose, wieweit bis zum Jahr 2035 700 in den USA untersuchte Berufe bzw. Tätigkeiten automatisierbar sind, wobei auch der Begriff künstliche Intelligenz Anwendung fand. Sie kamen auf 47 Prozent. Die Studie schlug in der Öffentlichkeit ein wie eine Bombe. Es wurden mit ähnlicher Methodik für die Bundesrepublik aber auch für einzelne Regionen bzw. Bundesländer Studien angefertigt, deren Ergebnis teilweise noch drastischer aussahen. Bei Vorträgen in verschiedensten Teilen Deutschlands wurde ich nicht selten von den Veranstaltern mit der Regionalzeitung in der Hand begrüßt, die auf dem Titelblatt die zukünftig nicht mehr gebrauchten Berufsgruppen und die damit erwartbare Arbeitslosigkeit abbildete. Bemerkenswert an der Oxford-Studie und ihren deutschen Pendants war aber nicht nur der prozentuelle Anteil der Jobs, die verloren gehen sollten. Es war vielmehr die bis dahin wenig diskutierte Tatsache, dass Computerisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz zukünftig nicht nur einfache Produktionstätigkeiten, sondern viele kognitive Tätigkeiten der Wissensverarbeitung vom Juristen über den Ingenieur bis hin zu bestimmten Lehrtätigkeiten betreffen würden. Sogar die lange als unantastbar geltenden kreativen Tätigkeiten waren bereits zu finden.[1] Der Hype um die Studien hielt einige Monate an, aber da die konkreten Umsetzungen fehlten, verschwand er gemeinsam mit der Angst vor Arbeitslosigkeit so schnell, wie er gekommen war.
Fachkräftemangel heute und morgen
An seine Stelle trat der Fachkräftemangel, der uns bis heute begleitet und immer bedrohlichere Formen annimmt. Es fehlt an allen Ecken und glaubt man den Prognosen, wird alles noch viel schlimmer. Es fehlen Handwerker, Pflegekräfte, Ärzte, Erzieher, Lehrkräfte, Ingenieure, Informatiker, Verwaltungsangestellte usw. Spricht man mit Vertretern von Unternehmen oder Verwaltungen über die Probleme, welche sie am meisten belasten, so ist trotz aller aktuellen Krisen das Thema sehr bald der Fachkräftemangel. So habe ich es mit Konzernvertretern genauso erlebt wie mit Mittelständlern oder Handwerkern, egal ob die Veranstaltungen in München, Frankfurt oder Halle stattfanden. Die Ursachen sind schnell gefunden. Neben einem stabilen und expandierenden Arbeitsmarkt ist es vor allem die demografische Entwicklung. Das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen den Generationen führt permanent dazu, dass mehr Menschen aus dem Arbeitsleben austreten, als neu dazukommen. Wenn beispielsweise im Jahr 1965 1,35 Millionen Kinder geboren wurden und im Jahr 2000 ca. 780.000, lässt sich die Größenordnung des Problems zumindest erahnen. Der Mangel regiert und feiert immer neue Höchststände. Im vierten Quartal 2022 konnten Unternehmen in Deutschland etwa 2 Millionen Stellen nicht besetzen.[2] Als Folge ist die Wirtschaftsleistung in Deutschland geringer als möglich und viele Dienstleistungen können nicht erbracht werden. Um die Probleme in einzelnen Branchen zu beheben, wird regelmäßig empfohlen, die Löhne zu erhöhen und die Unternehmenskultur zu verbessern. Prinzipiell sind das für den Einzelnen gute Vorschläge, aber sie lösen das gesamtgesellschaftliche Problem nicht. Denn am Ende des Tages kommt es nur zu einer Umverteilung der knappen Arbeitskräfte. Die Decke ist einfach zu kurz, an der alle ziehen.
Das Missverhältnis hat aber nicht nur negative Folgen. Wir erleben gegenwärtig, wie Berufseinsteiger und erfahrene Fachkräfte bereit und in der Lage sind, eine Gestaltung der Arbeitswelt einzufordern, die früher fast undenkbar war. Die Forderung nach Zeit- und Ortssouveränität, Arbeit, die Spaß macht, Freiräume bei der Arbeit und letztlich eine gelungene Verbindung von Arbeiten und Leben werden zwar aktuell oft der Generation Z zugeschrieben. Sie waren und sind aber auch bei der Generation Y stark ausgeprägt. Nur mit der Umsetzung haperte es. Doch inzwischen gilt: Je größer die Knappheit, je höher der Zwang der Unternehmen, sich anzupassen. Vorausgesetzt, die Unternehmen bleiben im Land und wandern nicht ab. Wer als Unternehmen keine flexible Arbeitszeit mit einem hohen Anteil Homeoffice anbietet, hat das Nachsehen. Das Unternehmen bekommt die hohe Wechselbereitschaft der Beschäftigten zu spüren. In vielen Branchen haben die Unternehmen insbesondere bei den Wissensarbeitern ausreichend Gestaltungsspielräume, die geforderte Flexibilität zu gewähren. Wie sich unschwer erkennen lässt, gilt das aber nicht für alle. Wer Maschinen bedient oder Menschen pflegt, kann das heute und in absehbarer Zeit nicht aus dem Homeoffice. Gleiches gilt für betreuende und lehrende Berufe für Kinder, für die Gastronomie und Serviceberufe und viele andere. Für die Wahl des Berufes oder der Studienrichtung wird die Möglichkeit der flexiblen Arbeitsgestaltung einschließlich der freien Orts- und Zeitwahl aber dennoch zum mehr und mehr bestimmenden Argument. Unter den Bedingungen des dauerhaften Fachkräftemangels (?) ist es eine durchaus rationale Entscheidung, Berufe und Tätigkeiten im Feld der Wissensverarbeitung zu wählen, welche die optimale Verbindung von Beruf und Familie, Arbeit und Freizeit ermöglichen und zudem noch ein gutes Arbeitsklima bieten. Berufe und Tätigkeiten mit „immanenter Anwesenheitspflicht“ geraten da mit wenigen Ausnahmen wie der Arztberuf zwangsläufig auf die Verliererstraße. Selbst dann, wenn die Löhne wie bei Lehrkräften im Sek I und II-Bereich allgemeinbildender Schulen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen durchaus akzeptabel sind. Die Frage ist nur: Bleibt es wirklich dauerhaft oder zumindest sehr lange bei dem gegenwärtigen Fachkräftemangel? Oder kommt es wieder zur Zerstörung festgefügter Überzeugungen, wie ich sie mehrfach erlebt habe.
Wenn die Demografie zurückschlägt
Oben habe ich geschildert, welche Rolle das Missverhältnis zwischen Austritt (Babyboomer) und Eintritt (Generation Z) in den Arbeitsmarkt spielt. Für die nächsten Jahre wird dieses Missverhältnis uns noch enorm beschäftigen, aber es ist kein Dauerzustand. Spätestens 2040 ist die Generation der Babyboomer komplett aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, wobei ihr Anteil an den Erwerbstätigen und damit die Anzahl der aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Personen vorher schon zu sinken beginnt.[3] Als Folge gleichen sich die Zahlen der am Arbeitsmarkt ausscheidenden und eintretenden Personen zunehmend an. Das Missverhältnis verschwindet schrittweise, was den Arbeitsmarkt entlastet. Auf einem anderen Blatt steht die Verschiebung der Alterspyramide hin zu den Älteren, was den Sozialstaat vor neue Herausforderungen stellt.
Auch ein zweiter demografischer Faktor könnte den Fachkräftemangel eindämmen. Deutschland braucht, so hat es das IAB ausgerechnet, jährlich 400.000 Zuwanderer, um die Lücken am Arbeitsmarkt zu schließen.[4] Normalerweise ist das eine enorme Herausforderung und die Prognosen deuten eher auf eine Abschwächung der Zuwanderung. Nicht zuletzt deshalb, weil typische Zuwanderungsländer aus dem Baltikum, Ost- und Südosteuropa in den letzten Jahrzehnten massive Bevölkerungsverluste von bis zu 30 Prozent und mehr hinnehmen mussten und heute selbst unter Fachkräftemangel leiden.
Aber wir leben in extrem unruhigen, volatilen Zeiten und die 1990er Jahre (Flucht vor den Jugoslawienkriegen), die Jahre 2015/16 (Flüchtlingskrise) sowie 2022 (Krieg in der Ukraine) haben mit den durch Krieg und Not verursachten Fluchtbewegungen alle Prognosen pulverisiert. Keiner kann sagen, ob z.B. der Klimawandel mit seinen Folgen für die Lebensbedingungen u.a. im Mittelmeerraum oder neue kriegerische Auseinandersetzungen in den nächsten Jahrzehnten weitere Zuwanderungswellen in das auch dann hoffentlich noch demokratische, liberale und ökonomisch stabile Deutschland auslösen.
Digitale Transformation und Arbeitsmarktentwicklung
Es wird manchen überraschen, aber weder die Computerisierung der 1980er Jahre noch die aktuelle digitale Transformation haben bisher den Arbeitsmarkt durch einen deutlichen Produktivitätsanstieg entlastet. Trotz massiver Digitalisierung, Computereinsatz und Automatisierung hapert es mit der Produktivitätsentwicklung. Diese Erkenntnis wurde bereits 1987 von dem US-Ökonomen Robert Solow mit den Worten „Sie können das Computerzeitalter überall sehen, außer in der Produktivitätsstatistik.“ formuliert. In den 1970er Jahren stieg die Produktivität noch innerhalb einer Dekade um etwa 50 Prozent. Seit dem Jahr 2011, das als virtueller Startschuss der vierten industriellen Revolution gilt, bis 2017 wuchs die Produktivität der Industrie um magere 9 Prozent. In den Jahren vor der Corona-Pandemie kam es in Deutschland in der Industrie sogar zu einem Nullwachstum der Produktivität.[5] Gleiches gilt für die gesamtgesellschaftliche Arbeitsproduktivität. Für die 2010er Jahre weist das Statistische Bundesamt eine durchschnittliche Steigerung von nur noch 0,9 Prozent pro Jahr aus. In den Jahren 2018 und 2019, also noch vor den Verwerfungen, die mit der Corona-Pandemie begannen, stieg die Arbeitsproduktivität in Deutschland um 0,0 und 0,4 Prozent. Es entstanden zwar gerade in Korrespondenz mit der Entwicklung des Internets neue Dienstleistungen. Aber ein deutlicher Zuwachs der Produktivität wie in vorhergehenden Phasen technologischer Umwälzungen blieb aus. Das ist auch einer der Gründe, warum die oben genannten Studien zu Auswirkungen der Digitalisierung weitgehend in Vergessenheit gerieten und der Fachkräftemangel zum alles beherrschenden Thema wurde.
Seit Beginn dieses Jahres ist nun scheinbar wieder alles anders. Mit dem Aufkommen von auf KI-Systemen beruhenden Text- und Bildgeneratoren ist eine Technologie am Markt angekommen, deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt mittelfristig durchaus die Vorhersagen aus 2013 erreichen könnten. ChatGPT 3 und 4 als Textgeneratoren und Dall-E, Midjourney und Google Imagen als Bildgeneratoren sind ständig in den Schlagzeilen, so dass es fast unmöglich ist, die Vielzahl der Publikationen auch nur annähernd zu überblicken. Revolutionär an den Systemen ist u.a. die riesige Menge an Trainingsdaten und die Fähigkeiten, diese in dialogischen Situationen einzusetzen.
Schon ist von einem neuen iPhone-Moment die Rede und die Liste der den KI-Systemen zugebilligten Fähigkeiten wird immer länger. Fast schon klassisch ist ihre Fähigkeit, Texte unterschiedlichster Art zu generieren. Sie reichen von Zusammenfassungen und Protokollen über Gliederungen und komplexen Wissenssammlungen bis hin zu wissenschaftlichen Arbeiten oder Geschichten, Gedichten und Liedern. Bildgeneratoren schaffen überraschende Bilder in hoher Qualität. Ich kann allen Leserinnen und Lesern, die es noch nicht getan haben nur empfehlen, selbst auszuprobieren, was da alles mit einfachsten Zugangsvoraussetzungen möglich ist.
Die Liste der Fähigkeiten geht weiter. Die Sprachmodelle können programmieren, auch wenn Insider anmerken, dass noch eine Menge Fachwissen des beauftragenden Menschen nötig ist, um das Ergebnis zu implementieren und zu nutzen. Selbst die Steuerung von Robotern wird praktiziert. Präsentationen erstellen ist genauso möglich wie der Bau von Webseiten nach einfachen Vorgaben. Die Systeme können mit Menschen sprechen oder Übersetzungen anfertigen. Der neueste Schrei ist ihre multimodale Gestaltung, die es ihnen ermöglicht, gleichermaßen Texte und auch Bilder zu verarbeiten. Bisherige Beschränkungen durch Trainingsdaten bis 2021 werden durch die Ankopplung an das Internet mit Plug-ins überwunden.
Zu den Auswirkungen der KI-Text- und Bildgeneratoren auf die Arbeitswelt und einzelne Arbeitsplätze gibt es im Augenblick mehr Detailuntersuchungen, Vermutungen und Annahmen als übergreifende Forschungsergebnisse. Zunehmend wird klar, dass hier neue Instrumente zur Verfügung stehen, die vor allem Wissensarbeiter*innen der unterschiedlichsten Art betreffen. Die betroffene Wissensarbeit reicht dabei von relativ einfachen sich wiederholenden Aufgaben bis hin zu hochgradig kreativen und spezialisierten Tätigkeiten und Führungsaufgaben. Es fällt schwer eine Grenze zu ziehen, wieweit der Einsatz reichen wird, denn schließlich stehen wir ja noch ziemlich am Anfang einer rasanten Entwicklung.
Eine zweite Schlussfolgerung mag auf den ersten Blick etwas beruhigen: Die Systeme ersetzen nur selten jemand in dem Sinne, dass eine ganze Berufsgruppe überflüssig wird. Sie bieten vielmehr mächtige Werkzeuge, welche die Produktivität der einzelnen Beschäftigten drastisch steigern kann. Es braucht weiter Jurist*innen, Programmierer*innen, Buchhalter*innen, Journalist*innen oder Forscher*innen und sogar Übersetzer*innen. Aber möglicherweise nicht mehr so viele, weil das gleiche Arbeitspensum mit Hilfe der KI von deutlich weniger Personen erledigt wird. Eine Studie der Macher von ChatGPT kommt zu dem Ergebnis, dass rund 80 Prozent der Arbeitskräfte in den USA rund 10 Prozent ihrer Aufgaben an GPTs delegieren werden.[6] Nach einer Untersuchung von Goldmann Sachs könnte ChatGPT weltweit 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze kosten. In den USA sollen vor allem Rechtsangestellte und Verwaltungsangestellte betroffen sein.[7] Aber wie gesagt – das ist erst der Anfang. Wieviel Dynamik aber auch Risikopotenzial in der Technologie steckt, zeigt ein offener Brief von mehr als 1.000 namhaften Brancheninsidern (darunter Elon Musk und andere Tech-Riesen), in dem eine Entwicklungspause gefordert wird, um verbindliche Regeln für Entwicklung und Einsatz für generative KI festzulegen und durchzusetzen.[8]
Es scheint so, als ob die lange ausbleibende Produktivitätssteigerung durch Digitalisierung nunmehr Wirklichkeit wird und die Vision der Forschenden aus dem Jahr 2013 doch noch eintritt. Als Gegenargument wird immer wieder betont, dass neue Technologien auch neue Tätigkeiten hervorbringen. Beispielsweise für die Entwicklung, den Bau, das Trainieren, die Implementierung und Wartung der neuen Technologien.[9] Oder die vorzugsweise in Billiglohnländern durchgeführte Datenannotation – das sichten, sortieren und markieren von Datensätzen für den Lernprozess der KI.[10]
Angesichts der einfachen Zugangsmöglichkeiten zu den KI-Systemen über das Netz und der Möglichkeit, manche Typen sogar auf normalen Rechnern zu installieren, könnte sich der Bedarf im Unterschied zu anderen Sprunginnovationen allerdings in Grenzen zu halten. Beispiele für echt neue Tätigkeiten sind sogenannte „Prompt Writer“, die Texte für andere Personen verfassen und in der Lage sind, die Leistungsfähigkeit der KI voll auszureizen.[11]
Welche Qualifikationen werden weiter gebraucht?
Insgesamt ist zu vermuten, dass die Qualifikationsanforderungen an die verbleibenden Wissensarbeiter bei Nutzung von KI eher ansteigen. Sie übernehmen zusätzlich zu ihrer bisherigen Tätigkeit die Funktion von Supervisoren. Dazu brauchen sie enormes Wissen (Abschätzung Plausibilität), methodische Fähigkeiten bei der Fehlersuche und Problemlösefähigkeit, um mögliche Fehler der KI auszubügeln. Sie arbeiten zusammen mit Bedienungsspezialisten für die KI wie die oben genannten „Prompt Writer“ sowie mit IT-Spezialisten wie Systemadministratoren für die Implementation und Integration der KI in die betriebliche IT. Das alles wird aber den zu vermutenden Rückgang des Bedarfes an Wissensarbeiter*innen nicht ausgleichen.
Vor diesem Hintergrund sind wir sehr schnell bei der Frage, welche Betätigungsfelder in Zukunft aufnahmefähig sind für Menschen auf der Suche nach bezahlter Erwerbstätigkeit. Aus meiner Sicht sind das vor allem zwei Tätigkeitsgruppen.
Der erste Bereich umfasst alle Tätigkeiten im direkten Umgang mit Menschen – insbesondere mit Zielgruppen, die ein hohes Maß an Empathie einfordern. Dazu gehören u.a. Pflege, Lehre für Kinder und Benachteiligte. Notwendig sind neben Empathie und Resilienz auch pädagogisch/psychologische sowie pflegerische Kenntnisse und vor allem Fähigkeiten. Für die Lehrkräfte, deren Fehlen ja gegenwärtig die ganze Republik erschüttert, sei noch angemerkt, dass ihr Bedarf in dem Maße sinkt, wie die Lernenden über eigene Lernstrategien und Lernmotivationen verfügen und die Rolle der reinen Wissensvermittlung gegenüber der Persönlichkeitsentwicklung zunimmt. Vereinfacht gesagt: Lehrkräfte in der Kita und der Grundschule sind unverzichtbar. In der Sekundarstufe II kann das schon ganz anders aussehen. Denn alle genannten Gruppen werden schon in naher Zukunft den Zugang zu KI-Systemen als Text- und Bildgeneratoren haben, die Ihnen personalisiertes Wissen in Echtzeit zur Verfügung stellt. In meinem Artikel vom September 2021 zur Zukunft der Weiterbildung in dieser Zeitschrift habe ich sie als persönliche digitale Assistenten bezeichnet und ausführlich beschrieben.
Der zweite Bereich bezieht sich auf den Totalumbau aller von den Menschen verwendeten Technologien mit dem Ziel der Dekarbonisierung (von mir bezeichnet als 5. Industrielle Revolution).[12] Dazu werden Menschen benötigt, die ein ausgeprägtes technisches Grundverständnis, Spezialkenntnisse zu den jeweiligen Technologien und vor allem technologische Fähigkeiten besitzen. In den beiden Bereichen werden gleichermaßen körperliche und Wissensvoraussetzungen benötigt, die sich deutlich von den Fähigkeiten von Wissensarbeiter*innen unterscheiden.
In diesem Zusammenhang könnte man provokativ fragen, woran man die gefährdeten Tätigkeiten der Zukunft erkennt? Die Antwort passt nicht in die aktuelle Diskussion um erstrebenswerte Arbeitsplätze. Denn gefährdet sind zukünftig außerhalb der verbleibenden hochproduktiven Wissensarbeit vor allem solche Tätigkeiten, die vollständig im Homeoffice realisierbar sind und weder direkten Kontakt mit Menschen (Empathie) noch ganzheitlichen Einsatz von Körper und Geist (technologische Tätigkeiten) benötigen.
Folgen des Zusammenwirkens von Demografie und Technologie am Arbeitsmarkt
Die scheinbar provokative Frage wird aber vor allem dann essentiell, wenn wir die oben geschilderte demografische Entwicklung einschließlich der Folgen für die Verfügbarkeit von Arbeitskräften mit der technologischen Entwicklung zusammendenken. Dann wird deutlich, dass wir in nicht allzu weiter Ferne eine erneute Umkehrung der Situation am Arbeitsmarkt erleben könnten. Der Arbeitsmarkt wandelt sich vom Arbeitnehmer- zum Arbeitgebermarkt. Mit allen Folgen für die Erwerbspersonen und die Unternehmen.
Stehen wir vor einem Epochenbruch?
Seit den Arbeiten von Robert E. Lane (Knowledgeable Societies) und Daniel Bell (The Coming of Post-Industrial Society) gilt unsere Entwicklungsetappe als „die Wissensgesellschaft“. Die mit KI erreichbare extreme Produktivitätssteigerung bei der Wissensverarbeitung hat Ähnlichkeiten mit den Produktivitätssteigerungen beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. In beiden Fällen wurden durch Produktivitätssteigerungen massenhaft Arbeitskräfte in der alten Produktionsweise freigesetzt, die Eingang in neue Wirtschaftsbereiche fanden.
Es wäre interessant zu diskutieren, ob auch die Wissensgesellschaft vor einem solchen Übergang steht. In dem Sinne, dass die dank KI hochproduktive Wissensarbeit deutlich weniger Beschäftigte aufnimmt, die dann in den Care-Sektor und den Umbau der technologischen Basis unserer Gesellschaft wandern. Die Wissensgesellschaft würde dann (möglicherweise) transformiert zur Care-/ Zero Carbon Society.
Was Wissensarbeiter*innen tun können:
Dieser Artikel erscheint in voller Länge zusammen mit einem Tutorial für Wissensarbeiter:innen demnächst auf der Seite https://www.managerseminare.de/.